Am eigenen Schopf

Die Industrialisierung Rethems in größerem Maßstab war immer auch mit Problemen verbunden. Zwar floriert in der Stadt bspw. die Landmaschinentechnik, große Unternehmen mit Bandstraßen und Werksbussen aber blieben aus.

Schon in der Zeit des Nationalsozialismus wollte Carl F. W. Borgward in Rethem ein großes Automobilwerk errichten, mit bis zu 2.000 Arbeitsplätzen. Die Stadt hätte, nach dem Niedergang der Kalindustrie in den umliegenden Gemeinden, einen solchen Aufschwung gut gebrauchen können. Nur hatte Bürgermeister Sahlberger seine Rechnung ohne die Bauern gemacht. Die betrachteten damals jede Nutzung von Grundstücken zu anderen als landwirtschaftlichen Zwecken als blanken Landraub. ‚Bäuerliche Interessen‘ hintertrieben folglich das Projekt. Auch hätte der Zuzug von ‚Proletariermassen‘ – wie es damals hieß – die politischen Verhältnisse wohl erheblich durcheinandergewirbelt. Solche Befürchtungen mögen eine zusätzliche Rolle gespielt haben. Rethem durfte daher nicht zur Autostadt werden.

Fast ein Rethemer Produkt, der Borgward Goliath Pionier / Bild: Slg. Hans-Peter Ehlers / Chronik

Fast ein Rethemer Produkt, der Borgward Goliath Pionier / Bild: Slg. Hans-Peter Ehlers / Chronik

So dauerte es bis zum Jahr 1960, bis das Toschi-Werk an der Hainholzer Straße in großem Maßstab seine Produktion aufnahm. In Blütezeiten fanden hier bis zu 350 Menschen auf den riesigen Hallenflächen Arbeit. Die Allertalbahn erhielt sogar eigens eine Haltestation. Hergestellt wurden hier Bauplatten aus Asbestzement, Rohre, Zaunpfähle und ähnliches. Und schon begannen erneut die Probleme.

Das Toschi-Werk, als es florierte / Bild: Slg. August Jahns, Stadtarchiv

Das Toschi-Werk, als es florierte / Bild: Slg. August Jahns, Stadtarchiv

Nach fast dreißig Jahren, im Jahr 1989, kam das Aus fürs Toschi-Werk. Der Asbest war endgültig als gesundheitsgefährdend eingestuft worden, was auch den Mitarbeitern, von denen etliche inzwischen an Asbestose litten, nichts Neues mehr war. In einigen Hallen lagerte fortan noch Interventionsgetreide, eine Zeitlang arbeitete ein ‚Teco-Textilservice‘, ein Kleider- und Textilversand auf dem Gelände. Überaus erfolgreich ist dort heute das Unternehmen ‚Bergmann Laser-Technik GmbH‘, das leider nur einen Teil des ehemaligen Toschi-Geländes belebt.

Weithin aber dämmerte das riesige Gelände als graue Industriebrache vor sich hin – die vielen Gebäude und Hallen wurden mit den Jahren nicht attraktiver. Einige kleinere Firmen siedelten sich kurzfristig an, eine Zeitlang wurden dort bspw. Wohn-Container für ‚Neufünfland‘ zusammengeschraubt, ein Busunternehmen nutzt einige Hallen als Remise, ein Gebrauchtwarenhandel für Büromöbel entstand.

Währenddessen setzte die regionale Wirtschaftsförderung stets alle Hoffnung auf einen großen Investor, auf einen ‚Sugar Daddy‘ oder auf den ‚Besuch der alten Dame‘. Prompt fiel sie auf eher kleine Geldbeutel mit großen Versprechen herein. Eine ‚Recycling Service Nord GmbH‘ durfte sich ansiedeln. Sie versprach der Stadt ein Recycling-Zentrum mit professioneller Schadstoffentsorgung samt einer überaus grünen und gesunden Zukunft für Rethem.

Im Wesentlichen aber türmte dieses ‚Unternehmen‘ immer nur neue Abfallhalden inner- und außerhalb der großen Hallen auf. Es kassierte bei Unternehmen mit Entsorgungsbedarf, blieb selbst aber das fachgerechte Recycling schuldig. Anordnungen zur Räumung wurden ignoriert, finanziell erklärte man sich schlicht für überfordert – viele hunderttausend Euro durfte letztlich der Steuerzahler in die überfällige Säuberung des Geländes stecken.

Eine der Toschi-Hallen, heute im Besitz der EGRA / Bild: Margret Dannemann-Jarchow

Eine der Toschi-Hallen, heute im Besitz der EGRA / Bild: Margret Dannemann-Jarchow

An diesem Punkt beginnt jetzt die Geschichte der EGRA – des ‚Energie- und Gewerbeparks Rethem/Aller‘: Ideenreiche Bürger der Stadt hatten das jahrelange, ziel- und fruchtlose Gehampel um die Zukunft des Toschi-Werks satt. Sie beschlossen, sich und ihre Region am eigenen Schopf aus der Bredouille zu ziehen und kauften fast ein Drittel des Geländes aus der Konkursmasse heraus.

Dieses Projekt ist heute eine absolute Rethemer Besonderheit: eine ‚Selbsthilfe von regionalen Unternehmern‘. Derzeit laufen tiefgreifende Umbauarbeiten auf dem Gelände, die Kanalisation wird saniert, einiges an Produktionsfläche ist bereits in festen Händen. Hinter dem Plan hinkt bisher nur die Vermietung von Büroflächen ein wenig her.

Zwar weiß jedes Kind, wie sich der Lügenbaron Münchhausen einst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte. Unmöglich, sagten daraufhin stets die Physiklehrer. Manchmal im Leben liegt eben auch die Physik daneben. In Rethem funktioniert dies Prinzip bisher hervorragend – als nachhaltige Industrialisierung in Eigenregie.