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Strategien im demographischen Wandel

Alt-Rethem / Foto: Margret Dannemann-Jarchow

Alt-Rethem / Foto: Margret Dannemann-Jarchow

Heute lautet die große Frage nicht mehr, ob der ‚demographische Wandel‘ kommt, sondern nur noch, wie er sich auswirken wird. Das Schrumpfen der Bevölkerung durch Überalterung und Abwanderung wird auch Rethem zunehmend härter treffen, weil die kleine Stadt nun mal zu den ‚ländlichsten Regionen‘ zählt. So nennen Bevölkerungswissenschaftler jene Räume, die vor allem dörflich geprägt sind und fern von großstädtischen Zentren liegen. Eine besonders handlungsorientierte Studie etlicher Autoren zu den Problemen, vor denen Kreise und Kommunen heute stehen, hat das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung vorgelegt. Sie umfasst 132 Seiten und kann hier als pdf-Datei heruntergeladen werden [Link].

Interessant ist es, dass in ihr verschiedene Strategien beschrieben werden, den unausweichlichen Schrumpfprozess politisch zu begleiten. Sie sollen hier kurz vorgestellt werden.

1. Die Vogel-Strauß-Strategie: Verwaltung und Bürger stecken den Kopf in den Sand und warten ab – nach dem guten alten Kölner Motto: ‚Et is noch immer jot jejange‘. Chancen bietet diese Strategie so gut wie keine, jedenfalls solange nicht massenhaft Babys und neue Arbeitsplätze plötzlich vom Himmel fallen. Allenfalls großstadtnahe und finanzstarke Gemeinden in einem ‚Speckgürtel‘ können sich eine solche Strategie leisten. Der einzige Vorteil bestünde darin, dass vorab keine finanziellen Mittel unnütz ausgegeben werden. Der Finanzierungsstau aber wüchse kontinuierlich. Am Ende eines solchen Weges stünde wohl die ‚Einheitsgemeinde‘, also die Aufgabe jeder kommunalen Selbstständigkeit dank des zunehmenden Drucks der Verhältnisse, aufgrund jahrelanger Untätigkeit.

2. Die Stegreif-Strategie: Man handelt nur dann reflexhaft, sobald Eingriffe unvermeidlich werden. Bürger, Politik und Verwaltung arbeiten sich dann an Symptomen und Folgen ab. Eine solche Strategie ist derzeit in Bad Fallingbostel live zu erleben, dort, wo ein plötzlicher Truppenabzug der Briten die Stadt vor unvorhergesehene Probleme stellte, weil man sich ‚auf ewig‘ mit den Soldaten eingerichtet hatte. Ein Szenario ohne Militär wurde dort nie auch nur präventiv diskutiert. Eine solche Strategie bietet für Kommunen hohe Risiken und kaum Chancen. Im Straßenverkehr nennt man dies ‚auf Sicht fahren‘. Wenn das Auto dann im Nebel vor die Mauer fuhr, folgen meist flehentliche Appelle an die nächsthöhere Verwaltungsebene, mit Fördermitteln einzugreifen. In Rethem dürfte sich ein solcher Wandel kaum so abrupt vollziehen, weil es hier keinen großen, nahezu monopolartigen Arbeitgeber gibt, zukunftsträchtig ist eine solche Strategie deshalb trotzdem nicht.

3. Die Sankt-Florians-Strategie: Eine Gemeinde mit einigen wenigen ‚Standortvorteilen‘ nutzt diese, um selbst Bevölkerung anderer Gemeinden anzuziehen – zum Beispiel mit der Existenz weiterführender Schulen, mit guter ärztlicher Versorgung, mit kulturellen Angeboten etc. Sie entginge damit dem demographischen Wandel gewissermaßen ‚auf Kosten anderer‘. Im südlichen Heidekreis ist ein solches Vorgehen wenig erfolgversprechend. Mit welchen Vorteilen gegenüber Nachbarstädten sollten Eystrup, Rethem oder Ahlden jeweils ausgerechnet für sich werben? Die unaufhaltsame ‚Konkurrenz um die Köpfe‘ findet heute im Wettbewerb mit großstädtischen Ballungsräumen statt. Eine solche Strategie könnte daher allenfalls funktionieren, wenn alle Landgemeinden gemeinsam und koordiniert in Konkurrenz zu den Großstädten um Menschen und Verdienstmöglichkeiten werben. Hierzu wäre aber auch ein Umdenken der Entscheidungsträger auf Landesebene nötig, die bisher mit ihren ‚Schlüsselzuweisungen‘ noch immer widersinnigerweise die Einwohner der Großstädte ‚veredeln‘, also das meiste Geld konsequent in die großen Städte lenken. Setzen wir aber einen solchen Strategiewechsel in der Landesplanung mal voraus, dann könnte dies eine erfolgversprechende Möglichkeit sein. Die Sehnsucht des Städters nach einem Leben auf dem Land ist unübersehbar vorhanden.

4. Die Cluster-Strategie, die auch ‚Miami-Strategie‘ genannt wird, weil diese amerikanische Stadt dank ihrer konsequenten Ausrichtung auf eine alternde Bevölkerung aus wohlhabenden Rentnern heute erfolgreich floriert. Gemeint ist also die zielgerichtete Förderung bestimmter Bevölkerungsgruppen – durchaus dann auf Kosten anderer. Dazu aber müsste in Rethem erst einmal ein Konsens entstehen, welche Art Stadt diese Gemeinde in Zukunft sein soll, wo also ihre ‚Marktlücke‘ liegt und wo sich ‚Kristallisationspunkte‘ bilden könnten: Eine Künstlerstadt wie Worpswede? Ein Technologiestandort im Allertal, also ein Silicon Valley im kleinen Maßstab? Eine Öko-Stadt der sauberen Energie? Oder vielleicht ein Anziehungspunkt für Migranten und Aussiedler, was wiederum die Geburtenrate beflügeln dürfte? Die Möglichkeiten wären zahlreich, nur müsste endlich mal Einigkeit – oder eine Vision –  hergestellt werden, bevor vorhandene Mittel bevorzugt einem ‚Markenkern‘ zufließen könnten.

5. Die Schrumpf-Strategie: Sie besagt, dass der Bevölkerungsrückgang sich nahezu unaufhaltsam fortsetzen wird, und dass man sich rechtzeitig darauf einstellen sollte. Die Infrastruktur würde dementsprechend frühzeitig an die Abwanderung angepasst. Zum Beispiel durch den Abriss – fürnehmer ausgedrückt: ‚Rückbau‘ – leerstehender Häuser. Durch das Verbot, weitere Bauflächen in Randlagen auszuweisen, um stattdessen Investitionen in den bestehenden Leerstand zu fördern. Vielleicht auch durch die Einflussnahme auf die Gesetzgebung, damit so in ‚Insellagen‘ dann wieder die gute alte Klärgrube statt des Anschlusses an ein kostenintensives Kanalnetz zu Ehren kommen könnte. Und generell durch die Anpassung aller Investitionen an den zukünftigen Schrumpfungsprozess, indem man den Fetisch des ‚Wachstums um jeden Preis‘ verabschiedet. Die Autoren der Studie schreiben:

„Finanzierungs- und Verteilungsprozesse sind derzeit noch zu stark darauf ausgerichtet, Wachstum zu belohnen – angesichts der absehbaren demographischen Entwicklung eine widersinnige Zielsetzung. Der kommunale Finanzausgleich staffelt Schlüssel- und Investitionszuweisungen nach ‚veredelter‘ Einwohnerzahl. Er sollte künftig positive Anreize für den gezielten Umbau setzen, damit die Kommunen insbesondere im peripheren ländlichen Raum zur Anpassung an den demographischen Wandel motiviert werden und die Lasten daraus tragen können.“

Stadtverstand und Landgefühl

Jemand habe sich ‚contre coeur‘ entschieden, sagen die Franzosen, ‚gegen sein Herz‘ und gegen sein richtiges Gefühl. So scheint es vielen Deutschen zu ergehen, fragt man sie nach ihren Ansichten zum großstädtischen und ländlichen Leben. Das Institut Allensbach hat dies gerade wieder getan. Demnach ziehen die Menschen dorthin, wo es ihnen subjektiv schlechter ergeht.

Auf dem Land leben die Menschen schlicht ‚glücklicher‘, das glauben inzwischen schon vier Fünftel aller Menschen, unabhängig davon, ob sie nun in großen Städten oder inmitten von Äckern und Feldern leben. 1956 glaubten dies nur 19 Prozent, 1977 immerhin schon 43 Prozent. Ein bemerkenswerter Wandel, der in völligem Gegensatz zu tatsächlichen Gegebenheiten steht.

Glückliches Land ... / Foto: Anne Trebilcock

Glückliches Land … / Foto: Anne Trebilcock

Faktisch wandern nämlich immer mehr Menschen in die Großstädte, vor allem wegen der besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, obwohl diese von höheren Miet- und Lebenshaltungskosten rasch wieder aufgefressen werden. Die Politik nennt dies ‚das demographische Problem‘. So etwas hat natürlich Folgen.

In den Städten steigt fortwährend der Aufwand, der für neue Wohnmöglichkeiten betrieben werden muss, die letzte Brache verwandelt sich dort in Bauland. Auf dem Land wiederum muss immer mehr Infrastruktur von immer weniger Einwohnern erhalten werden, die Kanalisation erweist sich bspw. als überdimensioniert, die Leerstände nehmen zu, die Substanz verfällt.

Faktisch sind die Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben aber geringer, als viele annehmen. Es ist vor allem eine Gefühlsebene, die diese Unterschiede festschreibt, ‚Romantisierung‘ spielt die entscheidende Rolle. Die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ schreibt:

Die Begriffe „gute Luft“, „günstiger Wohnraum“ und „Nachbarschaftshilfe“ werden von großen Mehrheiten dem Landleben zugeordnet, Stichworte wie „gute Einkaufsmöglichkeiten“, „abwechslungsreich“, aber auch „Schmutz“ und „Lärm“ dem Leben in der Stadt. Etwas überraschend ist vielleicht dagegen, dass die Befragten die Assoziation „einsam“ zu 27 Prozent dem Landleben, aber zu 39 Prozent dem Leben in der Stadt zuordnen.“

Bei vielen Städtern existiert also ein Bild vom Landleben, das so längst nicht mehr existiert: Da kräht der Hahn noch auf dem Mist, die Kinder spielen mit Lämmern und Katzen auf dem uralten Kopfsteinpflaster des Hofes, an den hölzernen Staketenzäunen rankt sich die Ackerwinde, die gute Oma nebenan erzählt dem Nachwuchs ihre Märchen, während draußen der Wintersturm tobt, und an den Sonntagen zieht die Feuerwehrkapelle vorm Heimatmuseum vorbei.

Mit dem wirklichen Landleben hat diese Idylle natürlich wenig zu tun, mit der Stallfütterung, mit der fortschreitenden Computerisierung der Landwirtschaft, mit der zunehmenden Monokultur und mit vielem mehr. Auch das bäuerliche Leben ist durch und durch ‚modern‘ geworden.

Trotzdem liegt in der Sehnsucht der Städter eine große Chance für die regionale Entwicklung auf dem Land. Mit der Stressfreiheit, mit der endlosen Landschaft, mit dem windungsreichen Fluss, mit der ungebrochenen Nachbarschaftshilfe, mit billigen Haus- und Gewerbemieten und mit preiswerteren Lebenshaltungskosten besitzt das Land durchaus Pfunde, mit denen sich wuchern ließe. Auch, indem man die hoffnungslos romantischen Vorstellungen der Städter bewusst argumentativ bedient. Es gilt, jener Sehnsucht des Städters, welche die ‚Landlust‘ monatlich millionenfach füttert, eine reale Heimat zu schaffen. So ließe sich vielleicht künftig die ‚Landflucht‘ in eine ‚Stadtflucht‘ verkehren.

Der alte Bahnhof

Grundsätzlich ist die Situation paradox: Während in den Großstädten angehende Mieter für eine Zweizimmerwohnung Schlange stehen, während die Mieten explodieren und die Interessenten sich datentechnisch für jedes Wohnklo ‚bis aufs Hemd ausziehen‘ müssen, gibt es hierzulande genügend Gewerbe- und auch Wohnraum für alle denkbaren Zwecke – preiswert, finanzierbar und problemlos.

Nehmen wir als Beispiel Rethems alten Bahnhof, der 1905 erbaut wurde. Seit im Jahr 1994 die Bahnstrecke stillgelegt wurde, nutzten die Besitzer ihn noch eine Zeitlang für Wohnzwecke. Das denkmalgeschützte Gebäude wäre heute im Prinzip ‚für’n Appel und’n Ei‘ zu haben (näheres weiß die Gruppe ‚Leerstand‘ im Arbeitskreis Stadtbild: 05021-861 73 85). Dieser Bahnhof liegt an einer heutzutage ruhigen Seitenstraße und ließe sich – mit seinem hellen Wartesaal und den zahlreichen Schuppen und dem üppigen Wohnraum – für alle möglichen Zwecke nutzen: als Künstleratelier, als IT-Werkstatt, als Aufnahmestudio, als Logistikzentrale eines Internet-Versandhandels, als Gebäude für altersgerechtes Wohnen – und, und, und. Einige notwendige Sanierungsmaßnahmen mit Hilfe des örtlichen Handwerks, und das Gemäuer wäre wieder flott – und schön wäre es dazu.

Rethems Bahnhof im Jahr 2010 / Bild: Slg. Bill Bode / Chronik

Rethems Bahnhof im Jahr 2010 / Bild: Slg. Bill Bode / Chronik

Obwohl Rethem im Prinzip jede notwendige Infrastruktur bereithält – Ärzte, Kinderbetreuung, Apotheke, Einkauf, Schule usw. – dürften Interessenten mit einem aber nicht rechnen: Dass sie dreimal lang hinschlagen und im Foyer eines Cinemaxx stehen, dass die abendliche Disco gleich um die Ecke liegt, oder dass ein Edelitaliener sie mit hohen Preisen lockt. Ein gewisse ‚Land-Affinität‘ sollte schon gegeben sein, aus der massenhaften Lektüre der ‚Landlust‘ im urbanen Raum müssten bloß mal Taten folgen.

Dafür aber gäbe es dann eine schier endlose Landschaft mit Marschen, Geest und Moor, ausgedehnte Wälder, Floßfahrten auf der Aller, Jagdgesellschaften und immerzu deftige Gerichte mit Hirsch- oder Wildschweinbraten. Und nette Leute obendrein. Auch nicht schlecht, wie wir finden.