Aus der Zeit völkischer ‚Rattenfänger‘

Im Kaiserreich fiel Rethem keinesfalls aus dem Rahmen. Die Einstellung der Bevölkerung auf dem flachen Land war in Deutschland monarchistisch und kaisertreu, der ‚Bund der Landwirte‘ formierte sich seit seiner Gründung im Jahr 1893 als eine deutsch-konservative Organisation mit unüberhörbaren völkischen und antisemitischen Untertönen. So wurde der Kriegsbeginn 1914 auch in Rethem eher gefeiert als betrauert, alles träumte von einem schnellen Sieg wie ‚Anno Siebzig-Einundsiebzig‘. Als dieser geplante Durchmarsch in einen zermürbenden Stellungskampf überging, änderte sich auch hier die Stimmung.

Die Nationalsozialisten konnten in der Region am Ende der Weimarer Republik dann überwältigende Erfolge verzeichnen, auch deshalb, weil sie das Bauerntum als ‚den neuen Blutadel des deutschen Volkes‘ feierten, was dem Selbstbild natürlich schmeichelte. Zudem wurde die Republik stets mit dem ‚Sündenbabel Berlin‘ gleichgesetzt, wo die ‚jüdische Dekadenz‘ Sitte, Brauchtum und Anstand hinweggefegt habe. Es entstand das bekannte Weimarer Phänomen einer ‚Republik ohne Republikaner‘.

Rethem bildete in diesem völkischen Meer zunächst einen kleinen Kontrapunkt. Der Aufschwung der Kalibergwerke ringsum hatte zu einem Anstieg von ‚Arbeiterstimmen‘ geführt, was sich besonders in Gewinnen der Sozialdemokraten niederschlug. Während die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932 im Kreis Fallingbostel mit 59,5 % der Wählerstimmen zur dominierenden Kraft wurde, kam sie in Rethem erst an dritter Stelle. Hier gewann die SPD vor der Deutsch-Hannoverschen Partei.

Das Phänomen der opportunistischen ‚Märzgefallenen‘ traf allerdings dann auch auf Rethem zu. Bei den letzten freien Wahlen nach Hitlers Inthronisation durch fehlgeleitete ‚alte Eliten‘ erhielt die NSDAP im März 1933 hier ebenfalls die meisten Stimmen. Friedrich Reckzeh, der siegreiche Spitzenkandidat und NS-Ortsgruppenleiter musste allerdings schon 1935 wegen ‚Ungereimtheiten‘ bei der Führung der Parteikasse zurücktreten.

Vor dem Rathaus: Hitlerjungen werden in die SA übernommen / Foto: August Jahns - Stadtarchiv - Chronik Rethem

Vor dem Rathaus: Hitlerjungen werden in die SA übernommen / Foto: August Jahns – Stadtarchiv – Chronik Rethem

Rethem war nicht mehr und nicht weniger antisemitisch als andere Gemeinden auch – die Stadt hat nur, historisch gesehen, ein wenig Glück im Unglück gehabt. Die Auseinandersetzungen um einen jüdischen Friedhof, der nicht neben einem evangelischen Kirchhof liegen durfte, sind für die real existierenden Ressentiments nur ein Beispiel. Dieser jüdische Friedhof ist heute im Ortsteil Wohlendorf zu finden.

Der jüdische Friedhof in Wohlendorf / Bild: Margret Dannemann-Jarchow

Der jüdische Friedhof in Wohlendorf / Bild: Margret Dannemann-Jarchow

Bis zum Jahr 1900 wurde in der Stadt noch eine Synagoge genutzt. Da aber immer mehr Mitglieder der jüdischen Gemeinde lange vor Hitler schon abwanderten, lebte zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft nur eine einzige Familie jüdischer Herkunft noch in Rethem, diejenige des konvertierten evangelischen Viehhändlers Isidor Abraham. Nach dem Erlass der ‚Nürnberger Rassegesetze‘  wanderte der 1938 in die USA aus, wo er sich als Arbeiter einer Kofferfabrik durchschlug. So kam es, dass aus Rethem keine Juden ‚deportiert‘ werden konnten. Schlicht ‚mangels Masse‘ …

Anfänglich brachte der Nationalsozialismus durchaus Vorteile für die Stadt. Eines der regionalen Zentren des ‚Reichsarbeitsdienstes‘ entstand am Londy-Park der Stadt, mit positiven Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Auch systemkonformes Verhalten hatte gewinnbringende Folgen. In der neuen Chronik der Stadt heißt es:

„Befragt man heute Zeitzeugen, staunt man häufig über das Ausblenden negativer Begleiterscheinigungen der damaligen Zeit. Man erinnert sich noch recht gut an Fahrten, Zeltlager an Nord- und Ostsee, die Mädels von damals an das Basteln von Weihnachtsgeschenken, an gemeinsames Musizieren, einige auch an ’schmucke‘ Uniformen, an prägende Gemeinschaftserlebnisse und Romantik am Lagerfeuer.“

Dann aber kam der Krieg, die Lebensmittelmarken hielten Einzug, Rohstoffe wurden eingesammelt, Nachrichten von immer mehr Gefallenen trafen ein. Die Stimmung wurde zunehmend skeptisch, zumal auch Soldaten auf Heimaturlaub von den Grausamkeiten der Front berichteten.

Als eine hastig aufgestellte Marine-Infanterie-Division gegen die Briten an der Allerfurt kämpfen sollte, wurde dann auch dem Letzten klar, was die Stunde geschlagen hatte. ‚Alte Zeiten‘ waren nach Rethem zurückgekehrt. Die 53. Welsh Division eröffnete den Kampf um die Aller, der drei Tage dauern sollte. Im letzten Moment verhinderte der britische Kommandeur einen Luftangriff, der Rethem damals wohl dem Erdboden gleichgemacht hätte. An ihn erinnert heute eine Dankestafel im Rethemer Rathaus:

„Kampf in Rethem/Aller April 1945
Am Donnerstag, dem 12.04.45 morgens früh, erhielt Captain Dixon von der 53rd Welsh Division von Colonel Lankey einen Befehl: Alle Engländer haben das Kampfgebiet zu räumen. In England waren bereits 500 Bomber gestartet, ein Teil davon mit dem Auftrag Rethem/Aller vollkommen zu zerstören.
Captain Dixon hat in eigener Verantwortung diesen Befehl verweigert und über Radio mit Mühen in allerletzter Minute erreicht, dass diese Bomber zurückbeordert wurden. Damit hat Captain Dixon unsere kleine Stadt, die schon schwer gelitten hatte, vor der völligen Zerstörung bewahrt und er hat damit vielen Rethemern das Leben gerettet. Mit dieser großen Tat hat sich Captain Dixon ein ehrendes Andenken verdient.“

Eine Pontonbrücke ersetzte nach den Kämpfen die – wieder einmal – zerstörte Allerbrücke. Ihr galten noch einige Angriffe der deutschen Luftwaffe, dann war in Rethem der Krieg vorbei. Nicht aber die Not. Zwangsarbeiter aus den Arbeitslagern ringsum, ehemalige KZ-Häftlinge und befreite Soldaten wollten verständlicherweise Vergeltung für die erlittene Behandlung. Viele Bewohner flohen in die Wälder, bis die britische Militärpolizei und rasch aufgestellte Selbstschutzeinheiten auch dieser Plage nach einigen Wochen ein Ende machten.

Britische Soldaten in Rethem am 16. April 1945 Foto: Imperial War Museum, Public Domain, wikimedia Commons

Britische Soldaten in Rethem am 16. April 1945 Foto: Imperial War Museum, Public Domain, wikimedia Commons